Freitag, 6. Dezember 2019

Winkelhalbierende Stirnversätze und andere Wunder


Was für ein Freitag! Am gestrigen Donnerstag haben wir vier von fünf Pfosten an die Pfette der hinteren, niedrigen Wand angeschlossen. Heute morgen kommt von Torben die Ansage: "Heute muß das hintere Rähm fertig werden."
Dazu fehlt nur noch der Anschluß des fünften Pfostens, das Anfertigen und Einpassen der linken Hinterstrebe, das Anfertigen und Einpassen der hinteren rechten Strebe*, das Bohren aller Löcher für die späteren Holznagelverbindungen... So kurz vor dem Wochenende ein ordentliches Pensum, das da vom Meister vorgegeben wird.
Draußen ist derweil das Wetter so erbärmlich, daß der Himmel nicht mal mehr Lust darauf hat, sich selbst in den Wasserpfützen gespiegelt zu sehen, und darum wird es auch gar nicht erst hell.

Dennoch, es hilft ja nichts: raus mit dem linken Pfosten, der so schön saß...

Kaum ist er raus, fällt Torben unmittelbar wieder in diesen seltsamen Zustand, bei dem man nicht weiß, ob er noch bewußt, oder bereits kontemplativ-meditativ unbewußt zu nennen ist. Gelegentlich hört man ihn Gedanken aussprechen. Inzwischen aber hält man sich mit Antworten und Reaktionen zurück, weil man weiß, daß beim Durchlaufen von komplexen Denkprozessen gelegentlich der Mund und die Zunge Nervensignale abbekommen, die sie zu Sprechreflexen zwingen, die nicht als Einladung zu einer Unterhaltung gemeint sind. Vielleicht ist es, wie wenn jemand im Schlaf redet. Auch da machen Antworten selten Sinn.

Das Ergebnis des Messens von Winkeln und Berechnens von Kraftübertragungen ist zunächst eine rohe Schablone aus Pressspanplatte.






Etwas, das den Meister vom Gesellen oder vom Lehrling unterscheidet, ist die Courage, nur einmal zu messen, und sich dann auf das ermittelte Ergebnis hundertprozentig zu verlassen. Vielleicht erinnert ihr euch an die schwarzen, buckeligen Stämmchen, aus denen mit dem Beil und dem Hobel die Streben herausgebissen wurden. Wenn das hier schief geht, dann war diese Mühe jedenfalls umsonst, und wir müssen neue Streben anfertigen. Entsprechend still ist es in der Werkstatt. Abgesehen davon ist Christian ohnehin gerade damit beschäftigt, sein gestern abend zerbrochenes Augenlicht zu betrauern.





 Die Schablone wird auf die Strebe aufgelegt, millimeterweise nach links, dann nach rechts verschoben, hier und da kommen Striche mit dem Bleistift auf das Holz, aber natürlich nicht so, daß es einfach zu verstehen wäre. Klar ist nur, daß der Pfosten das eine Ende aufnehmen wird, die Pfette das andere, dort aber an beiden Stellen kein gerader Aufnahmepunkt, sondern eine eher virtuell hineinprojizierte Ebene angenommen wurde, die dann grob vorgesägt wurde. Wenigstens hier konnte sich Christian mit dem Stemmeisen zu schaffen machen, denn das Feinputzen fiel in seine Verantwortung.










 Dann geht alles, als wenn es sich um das Ankleben eines Hölzchens einer vorweihnachtlichen Bastelarbeit handeln würde. Irre.




 Das hier ist der Anschluß, wo im oberen Bild die Fuchsschwanz-Säge liegt.







 Und hier das linke Gegenstück, wo im genannten Referenzbild das Nageleisen liegt.



Hier die Ansicht "vor Kopf". Hier ist der von Christian gebeilte Pfettenkopf zu sehen, der nachher hinter dem links hinteren Eckpfosten aus dem Gebäude ragen wird. Rechts im Bild die soeben eingepasste Strebe.






Wer das mal ausprobieren möchte, hier die Formel für den winkelhalbierenden Stirnversatz einer Strebe, ist ganz einfach, LOL ;)




Wir müssen nun einen Sprung durch die Halle machen, vorbei an allen mittleren Pfosten, um den letzten Pfosten der Reihe, der der rechte Eckpfosten werden wird, anzuschließen. Nicht stolpern dabei, bitte, es liegt inzwischen wieder eine ganze Menge Kram überall herum. Christian kommt wieder die Aufgabe zu, mit dem Stemmeisen den Zapfen freizulegen, während Torben bereits mit der Schablone für die hiesige Strebe beschäftigt ist.



Wumm! Der Pfosten passt gut und der Zapfen sitzt tief in seinem Loch.



 Auch von der Außenseite des Gebäudes aus gesehen. Das hier ist der Kopf am rechten Ende der Pfette.





Sitzt, als ob er dort gewachsen wäre. Der Pfosten, nicht der Kopf.




 Nun kommt die Streben-Schablone...




So soll es werden. In der linken Bildmitte sieht man den vorletzten Pfosten. Wo die Schablone trifft, muß herausgearbeitet werden, was demnächst das Ende der Strebe ausfüllen soll. Möglichst spaltlos.





Was soll man sagen. Auch hier ein respektables Ergebnis!





















 Die Aufgabe eines Holznagels wäre hier, die Pfosten stramm an die Pfette zu binden. WIR HABEN JA ABER NOCH GAR KEINE HOLZNÄGEL (okay, einen gibt es schon). Außerdem kommen die erst hinein, wenn nix mehr wieder auseinandergebaut werden muß. Deshalb übernimmt das Strammziehen vorübergehend eine Holzschraube, die direkt nach dem Einpassen der Strebe wieder entfernt wird, da schon nach kurzer Zeit im nassen Eichenholz die Schraube oft nicht mehr raus geht, und beim Versuch, sie zu entfernen, oft der Kopf abdreht, und dann hat man den Salat (wir wissen, wovon wir sprechen).






 Die Ästhetik solcher vollkommen traditionellen Holzverbindungen, hier sogar ganz die archaischen Varianten, kommt so richtig bei handgemachten Balken zur Geltung. Das, was man hier sieht, könnte genau so gut hunderte Jahre alt sein. Ist aber alles nagelneu.













Hä? Alles nur geträumt? So hat es doch ausgesehen, als wir gerade erst die Pfetten verbunden hatten? Mit Schrecken dachten wir da noch daran, daß nun fünf Pfosten angeschlossen werden müssen, dazu noch die beiden Streben...

Aber es ist wahr. Es gab nur keine Zeit, Bilder zu machen, während wir alles, was wir in den letzten Tagen zusammengepasst und zusammengebaut haben, wieder auseinandernahmen. Aber es muß ja auseinandergebaut werden, damit wieder Platz auf der Tanzdiele ist für die nächste Pfosten- und Pfettenhochzeit.




 Wir haben dazu alle Pfosten wieder herausgezogen und zusammen mit den Streben auf diesen Haufen gelegt. Wenn man es nicht wüßte, könnnte man meinen, wir blicken auf einen Stapel alter Fachwerkbalken, die man nur saubergebürstet hat.




Mittags geschah noch ein kleines Wunder. Ein Optiker aus Hunteburg rettete Christians Brille. Das Gestell ließ sich nicht reparieren, aber die Gläser waren ja noch heile, wenn auch durchs Handwerken verkratzt. Da dieser Optiker als Handwerker großes Verständnis für die Lage eines anderen Handwerkers hatte, der nix mehr richtig scharf sehen konnte, schliff er kurzerhand die Gläser auf das Maß eines günstigen Gestells, damit es weitergehen konnte. Wow! Christian war der "Erich-Honecker-Look" seiner alten Brille ohnehin zum Hals herausgeflogen. Nun ist es wieder ein funktionstüchtiges Gerät. Danke vom Mann aus der Werkstatt in Venne an den Mann in der Werkstatt nach Hunteburg*!





*Name der Redaktion bekannt ;)

Über das Wochenende herrscht nun wohlige Ruhe in der Werkstatt. Eine eben solche wünschen wir euch Lesern und Leserinnen am Wochenende auch! Bis nächste Woche! 


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* Es ist bemerkenswert, daß die meisten Rekonstruktionen eisenzeitlicher Gebäude, vor allem die der sogenannten "keltischen" Gebäude im Süden, ohne solche versteifenden Diagonalstreben gebaut werden. Man geht offenbar schlicht davon aus, daß diese Idee erst viel später aufkam. Im Grunde aber ist sie so einfach und konnte sogar beim Spielen durch Kinder erlernt werden, die mit ein paar Stöckchen eine kleine Bude bauten. Baut man alles rechtwinklig aneinander, fällt das Machwerk sehr leicht um. Durch in jede Achse schräg eingebaute Hölzer kann man den Bau sehr stark und steif bekommen. Bei den "keltischen" Rekonstruktionen hilft man sich oft dadurch, daß man kreuzweise verspannte Drahtseile in der Lehmwand "versteckt", die die heutzutage von Statikern geforderte Aussteifung garantieren.

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